Mit der vorliegenden 30. Ausgabe feiert das onlinejournal kultur&geschlecht ein rundes Jubiläum. Etwas mehr als 15 Jahre sind vergangen seit das onlinejournal im Juni 2007 erstmalig die Forschung von Nachwuchswissenschaftler_innen der Ruhr-Universität Bochum einem interessierten Publikum zugänglich gemacht hat. In dieser Zeit ist das onlinejournal dank zahlreicher Gastbeiträge und verschiedener Schwerpunktausgaben über die Grenzen seines ursprünglich angedachten Zwecks eines transdisziplinären Forums für Studierende und Promovierende weit hinausgewachsen, hat sich entlang neuer Fragen und Denkrichtungen weiterentwickelt, aktuelle Strömungen aufgenommen und auf diese Weise ein ums andere Mal anregende Beiträge zu laufenden medienkulturwissenschaftlichen Debatten liefern können. Dafür danken wir unseren Autor_innen und Unterstützer_innen, mit deren Hilfe das onlinejournal kultur&geschlecht in 15 Jahren zu einem festen Bestandteil einer lebendigen Forschungskultur werden konnte.
Ein gegenwärtig emergierendes Feld im Kontext medienkulturwissenschaftlicher Ungleichheitsforschung sind die Jewish Visual Culture Studies, denen sich seit kurzem beispielsweise das DFG-geförderte Projekt Queering Jewishness – Jewish Queerness. Diskursive Inszenierungen von Geschlecht und ‚jüdischer Differenz‘ in (audio-)visuellen Medien widmet. Auch die vorliegende Ausgabe setzt mit zwei Beiträgen einen Schwerpunkt auf die Jewish Visual Culture Studies, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit Fragen medialer Repräsentationen jüdischen Lebens befassen. In ihrem Beitrag mit dem Titel ‚But you’re white‘: Das Stereotyp der Jewish American Princess in GLOW untersucht Annika Artmann die von der Streamingplattform Netflix produzierte Dramaserie über US-amerikanische Wrestlerinnen, die in der Kritik häufig für ihre diverse Repräsentation gelobt wurde. In ihrer kleinteiligen Analyse kann die Autorin jedoch darstellen, dass die als Jewish American Princess, also als „das Klischee der verwöhnten und egozentrischen Jüdin“, konstruierte Wrestlerin Melanie Rose durch ihre gleichzeitige Konstruktion als weiß aus den intersektionalen Diskriminierungsdiskursen der Serie ausgeschlossen wird. Lailah Atzenroth setzt sich in ihrem Beitrag Freitagnacht Jews als Herausforderung von dominanzgesellschaftlichen Bildern des Jüdischen? mit der gleichnamigen, von Host Daniel Donskoy moderierten Talkshow auseinander, die seit 2021 vom Westdeutschen Rundfunk produziert wird. Die Show zeichnet sich durch ihr ständiges Unterlaufen dominanzgesellschaftlicher, stereotyper Vorstellungen jüdischen Lebens aus und macht es nicht einfach zu bestimmen, an welches Publikum sie sich richtet. Das oft subversive Wechselspiel von Selbstbildern und Fremdzuschreibungen und die Abbildung innerjüdischer Diversität gehen jedoch nicht selten mit einer Konstruktion wehrhafter Männlichkeit einher, die ein „auf Gewaltbereitschaft basierendes hegemoniales Männlichkeitsbild als erstrebenswertes Idealbild“ inszenieren.
Mit ihrem Beitrag zu Negativer Affizierung in den Gender Studies greift Tabea Speder in eine andere aktuell laufende medienwissenschaftliche Debatte ein, nämlich die um die Frage des Umgangs mit potenziell verletzendem Material. Wie die jüngeren Jahre gezeigt haben, birgt insbesondere der forschende Umgang mit Medienartefakten wie Memes oder Videos, deren Inhalte sich als Hate Speech klassifizieren lassen, besondere Verletzungspotentiale, aber auch die Gefahr der verlängernden Reproduktion von Gewalt. Wie äußert sich dies, wie lässt sich damit umgehen, wie lassen sich diese negativen Affizierungen sinnvoll problematisieren, um ihnen entgegenzuwirken? Speder nimmt sich diesen Fragen an und stellt dabei fest, dass sich im Umgang mit sexistischer Hate Speech andere Affektpotentiale realisieren können als es beispielsweise in der Antirassismusforschung der Fall sein kann, und öffnet die laufende Debatte für zahlreiche weitere Forschungsrichtungen, die sich mit diesen Fragen konstruktiv und produktiv auseinandersetzen müssen.
Mit dem vierten Beitrag dieser Ausgabe bewegen wir uns in eine tendenziell experimentellere Anordnung, die ihrem Thema in der Form gerecht wird. In dem Queer* re:collections_ Barbara Hammers Archivierungspraktiken im trans*temporalen Dialog überschriebenen Beitrag befasst sich M* Lucka aus einer in Queer Theory geschulten Perspektive mit den Arbeiten der US-amerikanischen Filmemacherin, Performance- und Medienkünstlerin, die seit den 1970er Jahren und über ihren Tod im März 2019 hinaus als Pionierin und eine der wichtigsten Protagonist*innen des feministischen Films bzw. des Queer Cinema gilt. Lucka geht jedoch über die bloße Analyse und Einordnung des Materials weit hinaus und sucht stattdessen den direkten Dialog mit Hammers Arbeiten, die als essenziell verstanden werden, „um queeren* Personen spaces geben zu können, wo das Sehnen nach Gesehen-werden möglich_er ist“. Luckas Artikel in Textform wird komplimentiert von einer Soundinstallation, die in zwei Formen zur Verfügung steht: als Soundscape zur akustischen Begleitung der Lektüre sowie als vollständige Lesung.